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Digitalisierung auf ganzer Linie
Datum 2020-07-29

Digitale Welt: Terra Incognita?

Sieben Jahre ist es nun her, dass Angela Merkel das Internet als „Neuland“ bezeichnete. Was hat sich seither getan? Wie steht es um die digitale Transformation in Deutschland im Jahr 2020?

Einerseits hat die Thematik in der Bundespolitik deutlich an Profil gewonnen. Über 200 Seiten umfasst die im Juni 2020 zuletzt aktualisierte Version des Strategiepapiers „Digitalisierung gestalten“. Darin legt die Bundesregierung detailliert dar, welche Maßnahmen für digitale Aus- und Weiterbildung getroffen werden sollen, wie der Staat Innovationen und Start-Ups im Digitalisierungsumfeld fördern will, und welche Pläne sie für die digitale Infrastruktur verfolgt.

Anderseits liefen die Diskussionen um ein neues Digitalministerium bei der Bundestagswahl 2017 letztlich ins Leere. Viele Maßnahmen sind noch längst nicht umgesetzt. Und gerade jetzt, in Zeiten der Krise, treten Missstände in der Digitalisierung des Gesundheits- oder Schulwesens deutlich zu Tage.

 

Digitalisierung – ganz oder gar nicht

Was also braucht Deutschland, um die eigenen hehren Digitalisierungsziele tatsächlich umzusetzen? Ein Blick auf die Digitalisierungsvorreiter der Welt zeigt: eine umfassende und ganzheitliche Digitalstrategie, die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik umfasst, ist entscheidend. Eine solche ist zwar in der Umsetzungsstrategie der Bundesregierung theoretisch formuliert, in der Praxis jedoch selten zu beobachten. Ganz anders sieht das beispielsweise in Taiwan aus.

Präsidentin Tsai Ing-wen rief dort bereits 2016 die Initiative „Asia Silicon Valley“ ins Leben – noch im Jahr ihres Amtsantritts. Durch Steuererleichterungen, Subventionen im Bereich Forschung und Entwicklung und attraktive Angebote für Investoren setzt die Regierung alle Hebel in Bewegung, um innovative Start-Ups und Unternehmen aus acht Schlüsselbranchen zu fördern. Dazu gehören beispielsweise das Internet der Dinge oder „Smart Machinery“, das taiwanische Äquivalent zu Industrie 4.0. Auch das Wirtschaftsministerium greift erfolgsversprechenden Unternehmen unter die Arme: mit dem „Taiwan Excellence Award“ werden jedes Jahr besonders smarte oder interessante Produkte ausgezeichnet und dem internationalen Markt präsentiert.

 

Digitale Demokratie

Wie ernst die aktuelle Regierung das Thema Digitalisierung nimmt, zeigt auch die Tatsache, dass 2016 erstmals ein Digitalministerium eingeführt wurde. Und mit Audrey Tang ist dieses keineswegs mit einer Politfunktionärin, sondern mit einem echten Digital Native besetzt. Parteilos, Schulabbrecherin, ehemalige Programmiererin, Hackerin und Aktivistin, Trans-Frau unter 40 – all das schreit kaum nach einer politischen Karriere. Dennoch (oder gerade deshalb) scheint sie jedoch die Idealbesetzung, um die Digitalisierung im Land voranzutreiben.

Das Credo der unkonventionellen Ministerin: „Digital Democracy“. Digitalisierung ist in diesem Verständnis nicht begrenzt auf smarte Fabriken und Business Hubs. Vielmehr bietet sie völlig neue Möglichkeiten der Interaktion mit Bürgerinnen und Bürgern. „Eine Demokratie wird besser, je mehr Menschen sich daran beteiligen[1]“, so Tang. Und der digitale Wandel mache das einfacher als je zuvor.

So hat Taiwan eine Reihe von Portalen ins Leben gerufen, auf denen Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung zu bestimmten Themen äußern können. Auf der Plattform JOIN beispielsweise entsteht aus den gesammelten Antworten nach und nach eine Art Landkarte der öffentlichen Meinung, die wiederum als Grundlage für Gesetzesentscheidungen fungiert. Und an Maßnahmen wie präsidentiellen Hackathons nehmen inzwischen hunderte Technologiebegeisterte Teil – auch, weil die Regierung verspricht, die Gewinneridee innerhalb weniger Monate umzusetzen.

Auch an der konkreten Ausgestaltung von Digitalisierungsmaßnahmen ist die Bevölkerung beteiligt. Entwickelt die Regierung beispielsweise ein Programm oder eine App, wird diese im Normalfall als Open Source oder gar Open API zur Verfügung gestellt. Nur so war etwa zu Beginn der Corona-Krise möglich, innerhalb kürzester Zeit eine App auf den Markt zu bringen, die die aktuelle Verfügbarkeit von Gesichtsmasken anzeigt– selbstverständlich in Echtzeit und mit Sprachausgabe für Menschen mit Sehbehinderungen. Der Regierung ist es so gelungen, die digitale Expertise der Bevölkerung in den politischen Gestaltungsprozess einzubinden und so für mehr Beteiligung und zugleich für mehr Effizienz zu sorgen.

 

Teilhabe durch Transparenz

Die Grundlage für ein solches System sei Vertrauen, so Tang, und das schaffe man nicht zuletzt durch Transparenz. Auch deshalb stellt die Ministerin jedes Gespräch, das sie in ihrem „Social Innovation Lab“ führt, wenige Tage später online –ob Lobbyist, Unternehmer, oder Mutter mit Fragen zum digitalen Lernen[2]. Statt dem vielfach beschworenen „gläsernen Bürger“ strebt Audrey Tang den „gläsernen Staat“ an und nimmt damit einem der größten Angstbildern im Umfeld der Digitalisierung seinen Schrecken.

Auch ein weiteres Begleitproblem der Digitalisierung versucht man in Taiwan mit den eigenen Waffen schlagen: Die rasante Verbreitung von Fehlinformationen oder „fake news“. Statt auf Zensur setzt man hier auf Richtigstellung – aber auf kreative, social media-taugliche Art und Weise. Als etwa das Gerücht kursierte, Toilettenpapier sei in Taiwan bald nicht mehr verfügbar, erstellte das Ministerium eine Infografik, auf der ein mit dem Po wackelnder Premier über die Situation aufklärte. In kürzester Zeit wurde das kurze Video zu einer viralen Sensation und verdrängte die gerüchteverbreitenden Beiträge von den Spitzenplätzen der Suchmaschinenergebnisse. „Humor over rumor“ nennt Tang diese Strategie, und in jedem Ministerium ist ein Team speziell damit beauftragt, auf solche Fehlinformationen schnell zu reagieren. Innerhalb von zwei Stunden, unter 200 Zeichen, ca. zwei Bilder, so die Vorgabe.

Auch im Strategiepapier der Bundesregierung gibt es ein Kapitel mit dem Titel „Einführung Moderner Staat“. Dabei geht es jedoch fast ausschließlich um digitale Verwaltung und Infrastruktur – von digitalen Möglichkeiten der Teilhabe keine Spur.

 

 

Warum diese Diskrepanz? Sicher spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Einerseits ist die Demokratie in Taiwan noch recht jung; die erste Präsidentschaftswahl fand 1996 statt. „Demokratie und das Internet passierten für uns quasi zeitgleich[1]“, erklärt die Ministerin, die damals gerade 15 Jahre alt war und die Schule abbrach, um sich selbst das Programmieren beizubringen. Die deutschen Institutionen tuen sich dagegen schwerer, über Jahre eingeschliffene Prozesse und Verhaltensmuster zu digitalisieren. Dazu kommt eine generell positive Einstellung vieler Taiwaner zu neuen Technologien, der eine grundsätzlich eher skeptische Sicht in Deutschland gegenübersteht.

Nicht zuletzt ist es aber sicher auch die konsequent – und vor allem fachkundig – umgesetzte Digitalstrategie der Regierung und seiner Digitalministerin, die hier einen Unterschied macht. Sollte es nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr also auch hierzulande ein Digitalministerium geben, lohnt sich vielleicht die Suche nach einer deutschen Audrey Tang.

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